Martyrs - Original vs. Remake

Eins gleich vorweg: Ich liebe "Martyrs" aus dem Jahr 2008! Dass der Film schockierend und gut sein soll, habe ich damals bereits im Vorfeld gehört, habe aber bewusst wenig über die Handlung des Films gelesen. Dementsprechend hart haben mich dann die Wendungen der Geschichte getroffen. Diesen Schockzustand konnte das Remake also schon mal nicht mehr hervorrufen. Aber was genau macht die Neuverfilmung aus dem Jahre 2015 sonst noch so überflüssig? (Spoiler Alert!)



In our family portrait...


Nach der Einführung mit Anna und Lucie als Kindern wird einem in beiden Versionen erst einmal eine uns völlig unbekannte Familie gezeigt. Man fragt sich, in welchem Zusammenhang die jetzt mit dem bisher Gesehenen stehen könnten und erfährt gleichzeitig einiges (Belangloses) über diese Familie. So zumindest im Original. Die Tochter hat z. B. ein Schwimmabzeichen gewonnen und stand deshalb sogar in der Zeitung. Der Sohn würde am liebsten, statt auf die teure Schule zu gehen, mit seiner Freundin durchbrennen. Ein normales Gespräch am Frühstückstisch und plötzlich wird es unterbrochen von der Türklingel. Die erwachsene Lucie steht draußen und tötet die ganze Familie. Im Remake geht das alles viel schneller. Hier ist eine random Familie und viermal Peng! Alle tot. Man hat als Zuschauer keine Zeit, sich überhaupt die Gesichter dieser Leute näher anzusehen. Somit kann man auch keinen Bezug zu ihnen aufbauen und das Mitleid hält sich in Grenzen. Aber eigentlich soll man diese Leute einigermaßen sympathisch finden, damit man anfangs noch zweifelt, ob Lucie jetzt wirklich die richtige Familie erwischt hat oder sie einfach nur komplett dem Wahnsinn verfallen ist, denn sie sieht ja immer wieder eine Kreatur, die aber offenbar nicht wirklich da ist. Wieso tötet sie eine ganze Familie, die ja augenscheinlich ganz normal war und nichts verbrochen hat? Sie halluziniert, bestimmt hat sie sich nur eingebildet, dass ihre früheren Peiniger die Familie aus dem Zeitungsartikel sind. Moment mal, welcher Zeitungsartikel? Im Remake gibt es keinen Hinweis darauf. Das Foto aus dem Original existiert nicht. Sicher, vielleicht hat Lucie nach jahrelanger Suche einfach zufällig an diesem Tag die Familie ausfindig gemacht und beschlossen alle zu töten. Aber die Erklärung im Original, dass sie nur wegen dem Foto in der Zeitung auf die Familie aufmerksam wurde, gefällt mir besser. Überhaupt finde ich die Kleinigkeiten wichtig. So repariert im Original die Familienmutter die Wasserleitung, im Remake werkelt ihr Ehemann, während sie im Haus das Essen zubereitet. Oder die "Verfolgungsjagd" zwischen Bruder und Schwester, wenn das angsterfüllte Schreien in hysterisches Gelächter übergeht. Derartige Detailverliebtheit (und ungekünstelte Schauspielkunst) sucht man im Remake vergebens.


Von schweren Psychosen und depressiven Phasen


Ein weiterer interessanter Unterschied zwischen beiden Filmen ist, dass nach dem Tod der Familie Lucie das Haus so schnell wie möglich verlassen will und Anna aber erst sauber machen möchte. Im Remake ist es genau umgekehrt mit der Begründung von Anna: "Wir haben keine Zeit dafür." Lucie will dafür bleiben, um "sich von ihrer Vergangenheit zu befreien und endlich Ruhe zu finden". Naja.
Eine Sache aber, die das Grundgerüst der Handlung, die absolute Essenz des Films zunichte macht, ist, dass beide Charaktere im Remake viel weniger leiden mussten. Der erste Handlungsstrang wird im Original viel länger hingezogen, wodurch man den Zuschauer glauben macht, dass es ab jetzt nur noch um Lucies Bekämpfung ihrer inneren Dämonen geht (und mit dem baldigen Twist umso mehr überrascht). Sie schreit, weint und verletzt sich selbst. Dazwischen immer wieder die verzweifelte Anna, die einerseits versuchen muss, ihre Spuren zu verwischen, andererseits auf Lucie aufpassen muss, da ihre psychischen Probleme ihr immer mehr zusetzen. Die Remake-Lucie scheint aber wieder einigermaßen in Ordnung zu sein, sie ist sogar fit genug, um Anna dabei zu helfen, die Leichen der Familienmitglieder nach draußen zu schaffen und ins Erdloch zu werfen. Alles gut soweit.


Ach ja, Lucie stirbt hier übrigens auch nicht. Sie stürzt nur und verletzt sich dabei etwas. Auch hier wieder alles gut.

Dirty is the new tortured


Den Höhepunkt der Dreistigkeit hat der Film für mich in der nächsten Szene erreicht: Anna findet schließlich den Geheimgang, es wird aufgedeckt, dass Lucie wohl doch Recht und die Familie Dreck am Stecken hatte. Dann findet sie in einem der Räume die angekettete, misshandelte und völlig kaputte Frau, die es ja sogar auf einige DVD-Cover geschafft hat. Wenn Anna ihr im Original dann helfen möchte, sie in die Badewanne setzt, versucht, ihr die Vorrichtung vom Kopf zu entfernen und einfach alles zusammenkommt... Das war für mich bei der Erstsichtung dieses Films so ein Schockmoment, wo ich einen spontanen Heulkrampf gekriegt hab. Man sieht sich die Wunden dieser Frau an und kann es nicht fassen, wie jemand zu so etwas fähig sein konnte.


Und dann ist da das Remake, in dem Anna einfach nur ein angekettetes Mädchen vorfindet. Sie ist ein wenig dreckig im Gesicht, was in Hollywood vielleicht der Begriff für "übel zugerichtet" ist. Sie kann sogar normal reden, wo das Original-Opfer kein Wort herausgebracht hat, höchstens ein verängstigtes Stöhnen. Okay, ab diesem Moment war der Film für mich eigentlich sowieso schon unten durch, aber ich will ja nicht auch einer dieser Rezensenten sein, die schreiben: "Furchtbarer Film! Musste nach 30 Minuten abschalten. Was für ein Dreck!" Nein, ich würde diesen Film zu Ende sehen und ihn verdammt nochmal ordentlich bewerten!
Im Original tauchen jetzt plötzlich Leute auf und erschießen die misshandelte Frau, die nicht mehr aufhören konnte, sich zu kratzen und sich dabei sogar selbst verstümmelte. Dieser Schuss kommt mega-überraschend und man fragt sich noch "Woher kam das jetzt?" und schon steht der nächste Handlungsstrang vor der Tür: "Bonjour!" Das Remake leitet das Auftauchen dieser Menschen etwas weniger abrupt ein. Anna, Lucie und das verdreckte Mädchen hören, wie die Tür aufgebrochen wird und versuchen zu fliehen. Sie kommen natürlich nicht weit und werden gefesselt wieder ins Haus zurückgebracht und Mademoiselle erklärt uns die Beweggründe des Kults.


Hostel 4


Statt jetzt, nach der Erklärung des Warums, alles daran zu setzen, ihre Person zu brechen und über einen längeren Zeitraum hinweg ihr Leiden zu maximieren, werden Anna, Lucie und Dreckgöre separat gefoltert. Diverse Szenen hätten sich sicher auch gut in einem der "Hostel"-Filme gemacht. Aber nur mal kurz am Rande: Was war das Motiv der Täter in "Hostel"? Richtig, reiche Säcke, die für viel Geld ihre Folter- und Mordgelüste an Touristen auslassen konnten. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als Spaß am Quälen ihrer Opfer. In "Martyrs" hat niemand Spaß, weder die Opfer, noch die Mitglieder des Kults (und übrigens auch nicht der Zuschauer). Es geht den Kultisten hier um höhere Ziele, um die Erschaffung von Märtyrern, um die Frage nach dem Leben nach dem Tod. Dennoch geht der Remake-Kult hier wesentlich weniger zielgerichtet und vor allem weniger geduldig vor. Nach ein paar Stromstößen kann man schließlich noch nicht den berüchtigten Ausdruck in den Augen erwarten. Trotzdem verlangt man von Anna immer wieder, sie solle doch bitteschön die Augen öffnen, während sie geschockt wird. Werfen wir nochmal einen Blick zurück aufs Original: Anna wird über Tage und Wochen lang an einen Stuhl gefesselt, in einen dunklen Raum gesperrt und mit einem ekligen Brei gefüttert. Manchmal gesellt sich ein hünenhafter Mann zu ihr und schlägt sie ein paar Mal. Einfach so. Er gaukelt ihr sogar vor, ihr den Weg auf den Ausgang freizugeben, nur um sie kurz davor doch wieder einzufangen. Psychische UND physische Folter ist das wahre Mittel zum Zweck, wie das französische Original uns beängstigend realistisch zeigt. Man weiß nicht, wie viel Zeit für Anna vergeht, bis sie am Ende gehäutet wird und stirbt, aber ich schätze, dass es sich schon um Monate handelt. Im Remake kommt es einem so vor, als würde sich das Ganze innerhalb einer Woche abspielen. Kann es sein, dass man den Film stellvertretend für ganz Amerika und vielleicht sogar viele Film-Konsumenten deuten darf? Dann ist nämlich die Aussage des Originals "Gut Ding will Weile haben", während das Remake eine kindische Ungeduld widerspiegelt. Nach dem Motto: "Jetzt leide doch endlich, damit du mir schnell noch sagen kannst, was nach dem Tod passiert, bevor ich rechtzeitig zum Abendprogramm nach Hause komme."


Scheinbar hält der Kult im Remake auch regelmäßige Treffen ab und sieht sich gemeinsam Hinrichtungen an. In der Endszene, die verdächtig an "Hostel 3" erinnert, wird Lucie gekreuzigt (Woher kommt der plötzliche religiöse Einfluss im Remake? Laugier hat darauf im Original bewusst verzichtet.) allen Mitgliedern zur Schau gestellt. Alle sollen live erleben, wenn sie den Zustand des Martyriums erreicht. So eine Zeitverschwendung hätten die Kultisten im Original ihren Mitgliedern niemals zugemutet. Da werden die (vorwiegend alten) Leute erst informiert, wenn bereits die harten Fakten auf dem Tisch liegen. Ich wiederhole mich zwar, aber es geht diesen Leuten nicht darum, sich am Schmerz anderer aufzugeilen. Sie treibt nur die eine Frage: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Das passt leider nicht mit der Darstellung im Remake zusammen.


We're just friends


Was jetzt noch an Unterschieden zu nennen ist, sind nur noch Kleinigkeiten, aber fand ich nennenswert. So hört im Remake nicht Mademoiselle, sondern der Priester (wie gesagt, plötzlich gibt es also doch religiöse Parallelen?) Lucies/Annas letzte Worte und erschießt sich daraufhin. Außerdem trägt Mademoiselle im Remake keinen Turban, was ich bei näherer Betrachtung doch als grob fahrlässig bezeichnen möchte, ja vielleicht sogar die größte Enttäuschung des Films, noch schlimmer als das dreckige Mädchen (natürlich rein ironisch). Und wieso dürfen die Darstellerinnen eigentlich ihre Haare behalten? Original-Anna wurde kahl rasiert, was einen Großteil zum Leidensweg beiträgt. Das weiß man ja aus Germany's Next Topmodel. Ach ja und war da nicht noch ein lesbischer Aspekt im Original? Stimmt ja, Anna war in Lucie verliebt, ein nicht unerhebliches Motiv für ihr Bleiben, nachdem Lucie gerade eine ganze Familie gemeuchelt hat. Das Remake macht aus Anna und Lucie nur zwei normale Freundinnen, also zwei Frauen, die miteinander befreundet sind, sie sind sowas von auf keinen Fall lesbisch!


An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass Mylène Jampanoi und Morjana Alaoui die perfekte Besetzung für Laugiers Film waren. Niemand hätte es besser machen können, wie das Remake kläglich beweist. Mir gefällt auch, wie Pascal Laugier in seinen Filmen immer weibliche Personen speziell hervorhebt. Bei ihm ist es eben die Mutter, die auch zupacken kann, und nicht der Vater. Der Kult wird von einer exzentrischen älteren Dame angeführt. Die Männer in diesem Film bleiben nur Werkzeuge. Ich habe mal in einem Interview mit ihm gelesen, dass er deshalb immer Frauen zu den Hauptrollen in seinen Filmen macht, weil sie für ihn immer noch ein Mysterium darstellen. Über Männer wisse er bereits genug.

Fazit

Am Ende gibt einem das Remake also nichts Neues. Billige Jump Scares (wie sie von Blumhouse Productions nicht anders zu erwarten waren) verblassen neben der kalt inszenierten Brutalität des Originals, das einen noch lange nach der Erstsichtung nicht loslässt. Das Remake hingegen ist schnell wieder vergessen, zielt es doch an der ursprünglichen Aussage des Films vorbei. Wieso man überhaupt ein Remake von einem gerade mal 10 Jahre alten Film machen muss, ist mir sowieso unverständlich. Es liegt aber wahrscheinlich einfach an der Unlust der Amis, Untertitel zu lesen, geschweige denn ausländische Filme zu synchronisieren. Stattdessen gehen sie den Kompromiss eines schlecht nachgedrehten Films ein, so zuvor schon bei "Funny Games" und vielen anderen (ursprünglich großartigen) Filmen geschehen.
Ich habe mir jetzt selbst jedenfalls so viel Lust auf "Hostel 3" gemacht, dass ich mir diesen Film nun mal wieder reinziehen werde. Mir ist nach leichter Kost mit unsympathischen Charakteren, bei denen man nur darauf wartet, dass sie nacheinander auf kreative Art dran glauben müssen. Schwere Kost à la "Martyrs", die einen emotional so sehr mitnimmt, dass man nichts mehr zu lachen hat, ist eben nichts für jeden Tag.


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